Kaum eine Branche ist von der Corona-Pandemie so hart betroffen wie die Circusse. Wenn auch in der nächsten Saison keine Einnahmen möglich sind, stehen viele vor dem Aus. Die Circus- und Schaustellerseelsorge bittet um Unterstützung. Ein Besuch beim Circus Ronelli in Stolberg.
Alles wirkt so beschaulich auf dem Platz am Stadtrand von Stolberg in der Städteregion Aachen: Ein blau-gelbes Circuszelt ist aufgebaut, die Wohnwagen leuchten in der Sonne, auf der Weide gegenüber grasen friedlich ein paar Pferde. Aber was man sieht, ist keine Idylle. Zwei Circusse und ein Puppentheater sitzen hier fest, seit Mitte März hatten sie keine Vorführungen mehr – ein Zeitpunkt im Jahr, ab dem die Saison eigentlich erst so richtig Fahrt aufnimmt. Die Branche gilt „als eine der am schwersten von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffenen“, heißt es in einem gerade veröffentlichten Hilferuf der „Gemeinde auf der Reise“, die schon seit Jahrzehnten von der Circus- und Schaustellerseelsorge (CSS) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) begleitet wird.
Familienunternehmen erst vor drei Jahren gegründet
Maike Trumpf sitzt in der Sonne vor ihrem großen Wohnwagen, den ihr Mann Fernando gebaut hat. „Circus Ronelli“ ist darauf in goldumrandeten roten Lettern zu lesen. Das Familienunternehmen ist erst vor drei Jahren als Ausgliederung aus dem Circus Trumpf gegründet worden, „das Zelt ist noch nicht abbezahlt“, sagt die 32-Jährige.
Circus Ronelli, das sind sie, ihr Mann, ihre Töchter Melina (11) und Skyla (8) sowie die Zwillinge Neveo und Neyphan (5). Die Familie bestreitet das komplette Programm alleine, sorgt für Auf- und Abbau und kümmert sich um die zwei Ponys, drei Ziegen, den Pudel und den Chihuahua. Wenn der Circus umzieht, müssen beide Eltern jeweils dreimal zwischen altem und neuem Standort hin- und herfahren.
Im vergangenen Jahr, erzählt Maike Trumpf, ist es dem jungen Circus gelungen, zwischen Anfang März und Ende November jede Woche auf einem neuen Platz zu stehen. „Wir konnten im Sommer so viel Geld einspielen, dass wir zum ersten Mal im Winter ohne Amt ausgekommen sind.“
Doch als der Saisonstart in diesem Jahr coronabedingt im Keim erstickt wurde, waren die Reserven aufgebraucht. Ratenzahlungen, Versicherungen, das Futter für die Tiere – auch die Soforthilfe kann den Betrieb nicht über das Jahr bringen. Jetzt ist die junge Familie doch auf Arbeitslosengeld II angewiesen, obwohl sich das mit ihrem Unabhängigkeitsbedürfnis nur schwer verträgt.
Wo Aufführungen versucht werden, bleibt das Publikum aus
Manche Circusse haben es inzwischen probiert, mit weniger Publikum und Sicherheitsmaßnahmen doch wieder auf Tour zu gehen. Auch beim Circus Ronelli hat man gerechnet. 350 Besucherinnen und Besucher passen normalerweise in das Zelt, „80 bis 90 könnten wir bei vier Personen pro Familie und den nötigen Abständen unterbekommen“, sagt Trumpf. „Aber die, die es versucht haben, hatten kaum Besuch. Die Leute trauen sich noch nicht.“
Und wenn ein Coronafall im Publikum bekannt wird, bedeutet das 14-tägige Quarantäne für den ganzen Betrieb. „Wer versorgt dann meine Familie mit Essen?“ Nein, trotz schlafloser Nächte, das Risiko ist der jungen Mutter derzeit zu groß. Aus Gesprächen mit anderen Circussen weiß sie: „Alle haben Angst, den falschen Schritt zu machen.“
Noch hofft der Circus auf das Weihnachtsgeschäft. „Aber wenn wir Anfang nächsten Jahres nicht rauskönnen, braucht man keinen Zirkus mehr machen“, blickt Trumpf voraus. Sie selbst ist eine „Private“, wie die Circussprache diejenigen nennt, die nicht in der Welt der Reisenden geboren wurden. Die 32-Jährige ist gelernte Heilerziehungspflegerin und hat vor 13 Jahren in die Circusfamilie Trumpf eingeheiratet.
Manchmal, in dunklen Stunden, überlegt sie schon, ob sie wohl noch mal eine Chance hätte in ihrem alten Beruf. „Und mein Mann kann gut bauen.“ Aber für die Familie und speziell für die Kinder wäre ein solcher Abschied vom Circusleben eine Katastrophe. „Sie wachsen hier viel freier auf, ohne Stress und Termine, und sind den ganzen Tag draußen.“
Schule für Circuskinder bietet feste Bezugspersonen
Cordula Witte kennt die Sorgen der Familie. Die Lehrerin der Schule für Circuskinder der Evangelischen Schule im Rheinland hat ihr zum Klassenzimmer umgebautes Wohnmobil an diesem Morgen vor dem weißen Zirkuszaun geparkt. Seit einem Jahr unterrichtet sie die vier Kinder des Circus Ronelli. Zweimal pro Woche ist die 47-Jährige vor Ort, versorgt die Kinder ihrem Alter entsprechend mit Lernpaketen und meldet sie zu Onlinekursen an.
Eine feste Bezugsperson ist für den Lernerfolg der reisenden Kinder entscheidend. Dafür nehmen die Lehrerinnen und Lehrer zum Teil sehr weite Fahrten in Kauf. Der Lohn dafür: „Man bekommt viel mehr Einblick in das Familienleben und es gibt zwischen Schule und Familien eine viel stärkere Erziehungspartnerschaft“, sagt Witte.
„Die Kinder belastet es, dass sie ihr gewohntes Leben nicht mehr haben“, schildert die Lehrerin ihre Eindrücke seit Mitte März. „Ihnen fehlt das Reisen, ihnen fehlen die Aufführungen.“ Weil Leben und Arbeiten beim Circus so eng miteinander verwoben seien, fielen die Corona-Folgen hier besonders schlimm aus. „Die Not der Familien stimmt uns alle sehr traurig“, sagt auch Schulleiterin Eva Röthig. „Wir hoffen einfach, dass sie in irgendeiner Form überleben können.“
Spenden aus der Bevölkerung, Überbrückungsjobs als Lkw-Fahrer oder im Callcenter – versucht wird alles, um sich über Wasser zu halten. Auch der Zusammenhalt zwischen den Familien ist hilfreich. Aber ohne weitere Unterstützung wird es schwierig. Der Hilferuf der Circus- und Schaustellerseelsorge appelliert: „Bitte nehmen Sie sich, wo auch immer Sie vor Ort Verantwortung tragen, der Not der Reisenden an! Erfinderisch sein, aktiv nach Unterstützungsmöglichkeiten suchen – wir bitten Sie alle um Ihr Engagement!“
Die Kinder vermissen das Reisen
Melina und ihre Schwester Skyla blinzeln in die Sonne und blicken über den Platz, auf dem seit Monaten 17 Menschen festsitzen und nicht mehr reisen können. Immer wieder trainieren die beiden Kinder, damit sie ihre Akrobatik‑, Hula-Hoop- und Netznummern trotz fehlender Aufführungen nicht verlernen. „Wir sind lieber unterwegs und an verschiedenen Orten“, sagt Melina. Fast ein halbes Jahr an einer Stelle, auch für ihre jüngere Schwester ist das schlicht „langweilig“.